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Christian Jörg

«Teure, Hunger, Großes Sterben»

Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts

Titelinformation "«Teure, Hunger, Großes Sterben»"

Bei Hungersnöten handelt es sich um existentielle Krisensituationen, deren Auswirkungen weite Teile der Bevölkerung in elementarer Weise betreffen. Auch in Europa waren solche Versorgungsengpässe bis weit in das 19. Jahrhundert hinein keineswegs eine Seltenheit, auch wenn diese Tatsache im allgemeinen Bewußtsein der heutigen Bevölkerung kaum noch präsent ist. Diese Studie untersucht unter Auswertung einer insbesondere auf unediertem Material städtischer Provenienz fußenden Quellenbasis die Auslöser, Reichweiten und Folgen von Versorgungskrisen des 15. Jahrhunderts in den größeren urbanen Zentren des süddeutschen Raumes unter Einbezug der schweizerischen Eidgenossenschaft. Im Zentrum der Betrachtung steht hierbei die verheerende Hungersnot der Jahre zwischen 1437 und 1440, die zu Recht als die schwerste Hungerkatastrophe des 15. Jahrhunderts gilt.

Mit Blick auf die Intensität und räumliche Ausdehnung der Krise dürfte diese während des späten Mittelalters nur mit der in der Forschung ungleich prominenteren Hungersnot der Jahre 1315-1318/22 zu vergleichen sein. Wie die letztere suchte auch jene weite Teile des europäischen Kontinents heim und ging mit Seuchenausbrüchen einher, die eine hohe Zahl von Opfern forderten. Nachweise für die Schwere der Not in den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts sind in den Quellen von der Iberischen Halbinsel bis in die russischen Fürstentümer und von Italien bis nach Irland zu finden. Als wesentlicher Auslöser mehrerer Mißernten innerhalb dieses Jahrzehnts läßt sich vor allem eine kurzfristige Kälteperiode ausmachen, die während jener Zeit mit extrem strengen Wintern, schweren Frosteinbrüchen bis in das späte Frühjahr hinein und feucht-kühlen Sommern einherging, was angesichts der Anfälligkeit des die damalige Nahrungsgrundlage liefernden Brotgetreides für Witterungsextreme schwerwiegende Folgen nach sich zog.

Während sich ein hoher Anteil der städtischen Bevölkerung aufgrund mangelnder Vorräte und angesichts sich binnen kurzer Zeit vervielfachender Getreidepreise in seiner Existenz bedroht sehen mußte, konnte manches Mitglied der vermögenden städtischen Führungsgruppen in solchen Zeiten durch Spekulationen am Getreidemarkt gewaltige finanzielle Gewinne erzielen. Nicht zuletzt die befürchteten Folgen der Krise für die Stabilität des Stadtregiments machten das Eingreifen des städtischen Rates notwendig. Erstmals läßt sich in jenen Jahren in den urbanen Zentren nördlich der Alpen ein regelrechter Maßnahmenkatalog der städtischen Obrigkeit zur Krisenbekämpfung belegen, dessen Inhalte auch in den folgenden regionalen und überregionalen Versorgungskrisen des ausgehenden Mittelalters, wie beispielsweise 1460, 1480-83, 1490/91, 1501-1503 und 1517, für das städtische Krisenmanagement prägend blieben. Das konkrete Agieren des Rates reichte in diesem Zusammenhang von der Festsetzung von Höchstpreisen über Kornausfuhrverbote, der Schaffung obrigkeitlich kontrollierter Vorräte und der teilweise erfolgenden Anlage von im nordalpinen Bereich in dieser Form erstmals nachzuweisenden speziellen Getreidegroßspeichern (beispielsweise Straßburg, Basel, Köln) bis hin zu exkludierenden Erlassen gegen Fremde. Die letztgenannten Vorgaben richteten sich auch und insbesondere gegen die den sogenannten "starken Bettlern" zugeordneten Personenkreise. Eng mit diesem Feld im Kontext zu sehen, beinhaltete die Ratspolitik in wesentlicher Weise auch den von der Fürsorge ohnehin kaum zu trennenden Bereich der Seelsorge, was sich etwa in der Organisation einer Vielzahl von Prozessionen und Wallfahrten niederschlug. Mit ihnen sollte der göttliche Zorn besänftigt werden, auf den nicht zuletzt der zeitgenössische Reformdiskurs - wie etwa die in der Studie in dieser Hinsicht erstmals ausgewertete «Reformatio Sigismundi» - den Ausbruch von Hunger und Epidemien zurückführte. Insgesamt konzentrierte sich die Versorgungspolitik des städtischen Rates allerdings auf zeitlich begrenzte Aktionen in konkreten Krisensituationen und bildete kaum Elemente einer antizyklischen Vorsorgepolitik aus. Die Studie belegt, daß die Untersuchung von Hungersnöten und deren Bekämpfung in der sogenannten Vormoderne mit Blick auf die Konstanten im Spannungsverhältnis zwischen Not, Profit und Fürsorge auch in unserer Zeit noch Aktualität besitzt.