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Josef N. Neumann

Behinderte Menschen in Antike und Christentum

Zur Geschichte und Ethik der Inklusion

Titelinformation "Behinderte Menschen in Antike und Christentum"

Inklusion, wie sie die UN-Konvention Über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert, hat in Deutschland seit ihrer Ratifikation den verfassungsrechtlichen Status eines Menschenrechts. Die deutsche Bundesregierung bekennt sich damit zu dem Ziel, jedem Kind, ungeachtet seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten, freie Schulwahl und auch behinderten Menschen die selbstbestimmte und diskriminierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Es wird ein neues Denken gefordert, das Einschränkungen grundsätzlich als Varianten menschlicher Lebensvielfalt begreift und die Dichotomie nichtbehindert/behindert, normal/anormal überwindet.

Doch erweist sich die gelebte Praxis als ein steiniger Weg, und in kurzsichtigen Umsetzungsversuchen wandelte sich der Begriff der Inklusion zum Reizwort, wenn nicht gar zum schulpolitischen Kampfbegriff. Soll Teilhabe aber nicht nur ein Etikett sein, muss ein gesellschaftlicher Diskurs über den grundsätzlichen Sinn von Inklusion als sozial- und bildungspolitischen Handlungsprinzipien stattfinden.

Dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten, einerseits mit Blick auf anthropologische, gesellschaftliche und ethische Fragen, die im Kontext der Inklusionsdebatte grundlegend sind, andererseits in historischer Perspektive. Die horizontale Ebene systematischer Untersuchungen wird durch eine vertikale Diskurslinie kulturhistorischer Zusammenhänge einer Disability History der Vormoderne und des Christentums ergänzt. Ganz konkret wird hier nach den inklusiven und nicht-normativen Vorstellungen, Denktraditionen und Menschenbildern in der Antike, im Christentum und in der europäischen Kulturgeschichte gefragt. In diesen Denktraditionen hat Schwäche, haben Alter, Krankheit, Behinderung, Hässlichkeit oder das nicht der Norm und Erwartung Entsprechende immer und im Kern zum vollständigen Menschsein gehört. Diesem Buch geht es um die Geschichte unserer gegenwärtigen Ethik, die wir erst ganz begreifen, wenn wir ihre Entstehungsprozesse verstehen.

"Neumann hat mit seinem Buch (und seinem Lexikonartikel) ein wichtiges Feld angerissen, das von hoher sozialgeschichtlicher aber auch kirchengeschichtlicher Bedeutung ist." Hans Reinhard Seeliger in "ZEITSCHRIFT FÜR ANTIKES CHRISTENTUM" 2018, Band 22, Heft 3

Inhalt "Behinderte Menschen in Antike und Christentum. Zur Geschichte und Ethik der Inklusion"

Vorwort

Einleitung
1. Hoffnung und Angst
2. Missbildungen – Bildungen wider die Natur?
3. Ursachenfrage
4. Sprechen über Missbildung und Behinderung
5. Behinderung und Gesellschaft
6. Anderssein – Fremdsein
7. Exklusion – Inklusion
8. Behinderung in historischer Perspektive

I. Altorientalische Reiche, frühantikes Ägypten und Israel
1. Behinderte im frühantiken Mesopotamien und Ägypten
2. Missbildungen und Behinderungen in der altägyptischen Medizin
3. Pygmäen und Kleinwüchsige der altägyptischen Gesellschaft
4. Missbildung und Behinderung in der Bibel

II. Griechisch-antike Mythologie und Gesellschaft
1. Mythologie und epische Dichtung
a) Hephaistos
b) Thersites
2. Schuldigwerden und Rache – Missbildung als Vorzeichen
3. Aussetzung missgebildeter Kinder
4. Behinderte im öffentlichen Leben
5. Sündenbockritual

III. Antike Naturphilosophie und Medizin
1. Wissenschaftliche Deutungen
2. Naturphilosophie der Vorsokratiker
3. Hippokratische Medizin
4. Aristoteles
5. Spätantike medizinische Autoren
6. Naturkunde im kulturhistorisch-gesellschaftlichen Kontext

IV. Infragestellungen in Kunst und Literatur der Spätantike
1. Missgebildete Menschen in der Kunst
a) Schönheit und idealer Körper
b) Hellenistischer Realismus
c) Die trunkene alte Frau in der Münchner Glyptothek
d) Der Bucklige der Villa Albani
2. Römische Schriftsteller
3. Plinius der Ältere
a) Exoten am Rand der Welt
b) Exoten und empirische Missbildungen
in Plinius’ Naturgeschichte

V. Christentum: Neues Testament und alte Kirche
1. Frühchristliche Gemeinde und Neues Testament
a) Behinderungen in den neutestamentlichen Schriften
b) Menschen mit Gebrechen in den frühchristlichen Gemeinden
c) Ende des Sündenbockmechanismus
2. Alte Kirche
a) Missbildungen in der Kirchenväterliteratur
b) Missbildungen in einer von Gott gewollten Schöpfung?
c) Behinderte Menschen und frühchristliche Diakonie
d) Behinderte und Gemeindeamt
3. Aurelius Augustinus (354 – 430 n. Chr.)
a) Verschiedenheit der Körper und Einheit der Schöpfung
b) Ungewöhnliche Körperbildungen und Auferstehungsleib
c) Ursprung und Entstehung ungewöhnlicher Körper
d) Auslegung der Noah-Geschichte

VI. Missbildung und Menschenbild im Mittelalter
1. Frühchristliche Ikonographie
2. Fabelwesen und die Vervielfältigung phantastischer Gestalten
3. Monster als Metapher des missgebildeten Menschen
4. Aussatz – die verstümmelnde Krankheit
5. Paracelsus

VII. Behinderte Jesuskinder und kleinwüchsige Menschen
1. Andrea Mantegna
a) Madonna delle Cave
b) Madonna mit Kind im Boston Museum of Fine Arts
2. Andachtsbilder
3. Kleinwüchsige Menschen und Hofnarren
a) Kleinwüchsige im Hofgesinde
b) Diego di Velázquez (1599 – 1660)

VIII. Vom Monster zur Missbildung als Gegenstand einer wissenschaftlichen Teratologie
1. Bilder von Monstern und missgebildeten Kindern
2. Anfänge ärztlichen Interesses
a) Jobus Fincelius (1526 / 1530 – 1589)
b) Eucharius Rösslin (1470 – 1526) und Jakob Rueff (1550 – 1558)
c) Ambroise Paré (1510 – 1590)
3. Teratologie als Wissenschaft
a) Anatomie als Leitwissenschaft
b) Zeitlichkeit organischer Körper
c) Johann Friedrich Meckel d. J. (1781 – 1833)

Abschluss – Behinderung und Ethik
1. Innere und äußere Norm
2. Behinderung und Perinatalmedizin
a) Von der Vorsorge zum Embryo-Screening
b) Pränatale Auslese
c) Schwangerschaftsabbruch = Behindertenfeindlichkeit?
3. Embryo – unfertig und rechtlos?
4. Ethische Herausforderung Solidarität
5. Hilfe – Mitleid – Würde

Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Bibelstellen
Glossar
Register
Personen
Sachen